19 Familien haben Bethlehem verlassen



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„19 christliche Familien haben Bethlehem verlassen“. Franziskaner-Custos Pierbattista Pizzaballa im Gespräch mit „Kirche in Not“ über die Gewalt im Heiligen Land und die Folgen. Viele Menschen sehen in der angestammten Heimat keine Zukunft mehr für sich und ihre Kinder. Einziger Ausweg: das Land verlassen. Das gilt vor allem für die Christen in Palästina. Als Hauptgründe werden Diskriminierung und Repressalien durch den israelischen Staat, die Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation und die hohe Arbeitslosigkeit (in manchen Gebieten liegt sie durch die Abriegelung der Autonomiegebiete schon bei 80 Prozent), sowie die Wohnungsnot genannt. Große Mängel gibt es auch in der medizinischen Versorgung. Knapp ein Drittel der christlichen Familien lebt bereits unter der Armutsgrenze.

Kirche in Not: Pater Custos, mit den Unruhen auf dem muslimischen Tempelberg und dem Terrorangriff auf eine Synagoge in Jerusalem nimmt der israelisch-palästinensische Konflikt zunehmend eine religiöse Dimension an. Fürchten Sie, dass aus einem nationalen ein religiöser Konflikt wird?

Es gibt dieses Risiko. Andererseits darf man nicht vergessen, dass es diese religiöse Dimension immer gab. Religion war immer Teil des Problems. Aber jetzt gibt es das Risiko, dass die religiöse Dimension vorherrschend (preeminent) wird. Das ist aber nicht nur unsere Sorge. Ich habe den Eindruck, dass die verantwortlichen Politiker dabei sind, die Dinge zu beruhigen. Ich weiß nicht, ob es dafür nicht schon zu spät ist. Wie gesagt: Der religiöse Aspekt wird immer da sein. Entscheidend ist, ihn so klein als möglich zu halten.

Kirche in Not: Aber stimmen Sie zu, dass der Kern des Konflikts noch immer der Streit zweier Völker um dasselbe Stück Land ist?

Ja. Aber wie gesagt, so klar trennen kann man die religiöse Seite von der nationalen nicht. Um ein guter Patriot zu sein, musste man entweder ein guter Moslem oder Jude sein. Man muss auch sehen, dass die säkularen Bewegungen (Lay movements) in den letzten zwanzig Jahren auf beiden Seiten, sowohl in Israel wie auch in Palästina, sehr schwach geworden sind. Ich glaube aber nicht, dass Politiker wie Palästinenserpräsident Mahmud Abbas den Konflikt in einen religiösen verwandeln wollen. Aber es ist wahr, das auf beide Seiten religiöse Parteien in diese Richtung arbeiten.

Kirche in Not: Auch in Israel?

Ja. Nehmen Sie die national-religiösen Parteien. Damit sage ich nicht, dass alle in der israelischen Gesellschaft das wollen. Aber das Risiko einer zunehmenden religiösen Dimension ist da und wir müssen alles tun, es zu vermeiden.

Kirche in Not: Zuletzt gab es Unruhen auf dem islamisch verwalteten Jerusalemer Tempelberg. Juden klagen ihr Recht ein, dort zu beten. Das ist ihnen bislang auch nach israelischem Gesetz verboten. Sollte es Ihrer Meinung nach eine Änderung geben?

Es ist Juden ja nach traditioneller jüdischer Auffassung verboten, den Berg zu betreten, wo der jüdische Tempel stand. Problematisch ist deshalb nicht die Religion an sich, sondern wenn sich Religion und Politik vermischen. Das geschieht aber derzeit. Bislang hat man in Israel den Status quo auf dem Tempelberg respektiert. Wenn man das ändert, wird es den Konflikt in eine religiöse Richtung verändern, die irreversibel sein wird.

Kirche in Not: Das Jahr 2014 war kein gutes im Verhältnis von Israelis und Palästinensern. Im April brachen die Friedensgespräche zusammen, im Sommer kam es zum Krieg in Gaza, jetzt im Herbst wird Jerusalem vom Terror heimgesucht. Sind wir weiter vom Frieden entfernt als jemals zuvor?

Ich weiß nicht, ob wir weiter entfernt sind als jemals zuvor. Aber weit vom Frieden entfernt sind wir ohne Frage. Ich sehe keine Möglichkeit, die Dinge in nächster Zeit zu ändern. Zwischen beiden Völkern gibt es eine tiefgehende Frustration und einen großen Mangel an gegenseitigem Vertrauen.

Kirche in Not: Was müsste geschehen, um Vertrauen aufzubauen?

Es wird lange Zeit brauchen. Und leichte Lösungen gibt es keine. Was wir derzeit erleben, ist das Ergebnis von Jahren von Hass und Frustration. Man muss in den Schulen und in der Gesellschaft anfangen. Man muss den Palästinensern etwas konkretes geben und nicht nur Versprechungen. Auch die Israelis müssen das Gefühl haben, dass sie auf der anderen Seite einen Ansprechpartner haben.

Kirche in Not: Können die Christen im Heiligen Land dabei eine Rolle spielen?

Wir Christen hier im Heiligen Land sind irrelevant. Wir sind zu wenige. Außerdem sind wir konfessionell gespalten. Wir können uns nicht einmal darauf einigen, wer in der Grabeskirche was reinigen darf. Wie können wir da ein Zeugnis der Einheit und Versöhnung geben? Wir können deshalb keine Brückenbauer sein. Aber natürlich können wir Gelegenheiten zur Begegnung schaffen. Alle Kirche haben ja interreligiöse Foren. Vielmehr glaube ich aber nicht, dass wir tun können.

Kirche in Not: Wie werden die Christen im Heiligen Land von der Gewalt und den Spannungen getroffen?

Wir spüren natürlich massiv den Einbruch des religiösen Tourismus. Im Vergleich zum Vorjahr haben wir seit dem Gaza-Krieg einen Besucher-Rückgang von sechzig Prozent an den Heiligen Stätten. Das ist ein dramatischer Einbruch. Es geht nur langsam aufwärts. Aber die Christen, die vom Tourismus leben, sind das gewohnt. Es gibt alle paar Jahre solche Konflikte. Neben der wirtschaftlichen Dimension gibt es aber auch eine zunehmende Frustration unter den Christen. In den letzten zwei, drei Monaten haben 19 christliche Familien Bethlehem in Richtung Europa und Amerika verlassen.

Kirche in Not: Was ist der Grund dafür?

Alle Christen sind erschüttert durch das, was derzeit durch ISIS im Irak geschieht. Es war ein fürchterlicher Schock für die Christen auch im HeiligenLand. Es verstärkt das Gefühl, dass Christen im Nahen Osten keine Zukunft haben, dass man sie hier nicht will. Hinzukommt die Frustration über das Ausbleiben des Friedens.

Kirche in Not: Als Gründe für die Abwanderung von Christen aus Palästina werden zwei Gründe angegeben: die Folgen der israelischen Besatzung und die Islamisierung der palästinensischen Gesellschaft. Was halten Sie für den Hauptgrund?

Es ist kein „entweder oder“, sondern ein „sowohl als auch“. Das Eine schließt das Andere nicht aus. Das Leben in den palästinensischen Gebieten ist wirtschaftlich gesehen sehr schwierig. Die Beziehungen zur islamischen Gemeinschaft wiederum sind nicht so wie sie früher waren. All das zusammen mit dem, was um uns herum passiert, erzeugt ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit.

Kirche in Not: Derzeit wird in Israel ein Gesetz diskutiert (Nation state bill), das den jüdischen Charakter des Staates festschreiben will. Geht das zu Lasten der israelischen Demokratie mit seiner großen arabischen Minderheit, darunter viele Christen?

Nun, es ist ja nicht neu, dass sich Israel als jüdischen und demokratischen Staat versteht. Das ist so, seit es diesen Staat gibt. Dieses derzeit diskutierte Gesetz wird die Situation der Minderheiten einschließlich der Christen nicht grundsätzlich ändern, glaube ich. Aber es wird dazu beitragen, dass das Gefühl der Fremdheit der Minderheit Israels gegenüber dem Staat zunimmt. Sie werden noch mehr als bisher das Gefühl haben, dass man sie eigentlich nicht will.

Kirche in Not: Wenn wir über das Heilige Land hinausschauen: Ist das Jahr 2014 mit dem Vordringen von ISIS im Irak und Syrien ein Wendejahr für die nahöstliche Christenheit insgesamt?

Ja, 2014 ist ein Wendepunkt. Was der Erste Weltkrieg für Europa war, ist dieses Jahr für den Nahen Osten. Die alten Ordnungen haben keine Bestand mehr. Wir wissen aber noch nicht, wie die neuen aussehen werden. In Syrien zum Beispiel sind hunderttausende Christen auf der Flucht. Die Mittelklasse verlässt das Land. Zurück bleiben die Armen. Die kirchliche Infrastruktur, die wir etwa in Aleppo und anderen Landesteilen aufgebaut haben, ist zerstört oder verlassen. Es stehen große Aufgaben vor uns. Wir müssen nicht nur die christliche Gemeinschaft wieder aufbauen, sondern auch das Verhältnis zur muslimischen Mehrheitsgesellschaft.