Flüchtlingsdrama vor den Toren Mossuls



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Der Vormarsch der ISIS-Krieger hat tausende irakische Christen heimatlos gemacht. Immer mehr denken an Ausreise. Für das internationale katholische Hilfswerk „Kirche in Not“ ist zurzeit Oliver Maksan im Land. Er berichtet über die Flüchtlingshilfe der katholischen Kirche nahe Mossul.

„Ahlan wa sahlan, herzlich willkommen“, sagt Erzbischof Amil Nona freundlich, als eine ängstlich dreinschauende verschleierte Frau sein Büro betritt. Er bietet ihr einen Platz an. „Sie ist mit einem ihrer Söhne gerade zu Fuß aus Mossul hierher nach Tilkef gekommen, um sich in Sicherheit zu bringen“, übersetzt der chaldäische Erzbischof von Mossul, was die hektisch auf Arabisch sprechende Muslimin berichtet. „Es gab Gefechte zwischen der Regierung und den sunnitischen Aufständischen.
Deshalb ist sie geflohen.“ Zwischen Mossul und dem zum Teil christlichen Ort Tilkef sind es nur drei Kilometer. Aber dazwischen liegen jetzt Welten, seit die Islamisten die Stadt erobert haben. „Wir nehmen hier jeden auf, sei er Christ, sei er Muslim“, sagt Nona. „Das ist, was uns unser Glaube lehrt: Jedem helfen ohne Ansehen der Religion. Gott liebt jeden. Deshalb sollen auch wir allen helfen.“ Tatsächlich hat die Kirche ihre Schulen, Kindergärten und Gemeindesäle nicht nur Christen, sondern auch muslimischen Familien geöffnet. In Alkosch, einem christlichen Ort etwa 20 Kilometer von Mossul entfernt, haben sie neben 500 christlichen auch 150 muslimische Familien aufgenommen. In Tilkef fanden über 700 Flüchtlingsfamilien Aufnahme, darunter auch Muslime. Der Ort platzt aus allen Nähten. Selbst in einer Druckerei für liturgische Bücher sind Flüchtlinge untergebracht. So wie die fünfköpfige Familie von Vater Habib. „Wir haben in Mossul alles zurückgelassen. Nur was wir am Leib trugen, Dokumente und ein paar Tragetaschen haben wir aus Mossul retten können. Das ist alles, was uns geblieben ist. Ich weiß nicht, ob wir jemals wieder dorthin zurückkehren können“, berichtet der chaldäische Katholik. Er zuckt mit den Schultern. „Ich weiß auch nicht, was uns die Zukunft bringt.“

Erzbischof Nona weiß, wie es den Menschen geht. Er selbst ist Flüchtling geworden. Mit der Übernahme Mossuls durch die dschihadistischen Terroristen von ISIS vor drei Wochen flohen er und etwa 5000 Christen aus der zweitgrößten Stadt des Irak. Auch hunderttausende Muslime versuchten, sich vor den grausamen Gotteskriegern in Sicherheit zu bringen. Auf etwa 450 000 Menschen wird ihre Zahl geschätzt. Die meisten haben Zuflucht in den kurdischen Autonomiegebieten gefunden. „Meine Diözese gibt es nicht mehr. ISIS hat sie mir genommen“, sagt der Erzbischof. Derzeit, so Nona, seien drei Viertel seiner etwa 10 000 Diözesanen auf der Flucht. „Ich weiß nicht, ob sie jemals wieder nach Mossul zurück können.“ Dementsprechend düster ist die Stimmung der Menschen. „Es gibt im Nahen Osten keinen Platz für uns Christen“, sagt eine Frau. Auch sie ist aus Mossul geflohen. Vier Kinder hat sie. „Wo sollen die jetzt hin? Uns hält im Irak nichts mehr. Erst der Krieg 2003.

Dann die Wirren danach, als wir Christen zur Zielscheibe von Fanatikern wurden. Und jetzt das. Wir wollen lieber heute als morgen in den Westen.“ Sie macht sich aber keine Illusionen. „Ich weiß von Verwandten, dass es dort nicht leicht ist, ein neues Leben zu beginnen. Aber wenigstens ist es dort sicher. Ich will nicht, dass meine Kinder in Angst aufwachsen müssen.“

Die Bischöfe sind sich darüber im Klaren, wie ihre Gläubigen denken. Verzweifelt haben sie auf der Synode, die vergangene Woche zu Ende ging, nach Antworten auf die Krise gesucht, die der Vorstoß von ISIS entfacht hat. „Es ist ja nicht nur die aktuelle Flüchtlingskrise“, sagt Erzbischof Nona. „Das Problem ist, dass sich durch den Vorstoß von ISIS und die Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten alle Christen im Irak unsicher fühlen. Sie haben den Glauben an eine Zukunft hier verloren.“ Dabei ist der Aderlass des sich auf den Apostel Thomas zurückführenden irakischen Christentums nicht neu. Erzbischof Nona rechnet vor, dass vor 2003, als die Amerikaner kamen, um Saddam Hussein zu stürzen, allein über 25 000 Chaldäer in Mossul lebten. Vor der jetzigen Flucht waren es gerade noch 5000. Insgesamt hat die irakische Christenheit in zehn Jahren etwa zwei Drittel ihrer einst 1,2 Millionen Gläubigen an die Region und das westliche Ausland verloren.

Die Hoffnung der Bischöfe richtet sich derweil auf Kurdistan. Die autonome Zone im Norden des Irak ist schon seit Jahren zum Zufluchtsort für Christen aus unruhigen Teilen des Landes wie Mossul und Bagdad geworden. Dort, so glauben viele Bischöfe, könnten sie eine neue Heimat finden. Patriarch Louis Rafael sagte gegenüber dem katholischen Hilfswerk „Kirche in Not“ kürzlich, dass man hier eine neue christliche Infrastruktur errichten müsse, sobald sich die Lage beruhigt habe. „Wir werden neue Häuser brauchen und Fabriken und Landwirtschaft aufbauen müssen. Die verbliebenen christlichen Orte müssen modernisiert werden. Für all das sind wir auf die Hilfe von außen angewiesen.“