„Es muss wieder aufgebaut werden.“



syrien

„Das Land muss wieder aufgebaut werden. Es genügt nicht, zurückkehren zu wollen“. Unter der Leitung von Bischof Samir Nassar, dem maronitischen Erzbischof von Damaskus, und mit Unterstützung der Päpstlichen Stiftung KIRCHE IN NOT (ACN) konnte eine Delegation des Familienausschusses der Syrischen Bischofskonferenz (1) am Weltfamilientreffen in Dublin teilnehmen. Maria Lozano und Pierre Macqueron haben diese Gelegenheit genutzt, um sie über die Situation im Land zu befragen. Die Teilnehmer erklären, der Krieg in ihrem Land sei „die grausamste Tragödie in der Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg“, und beschreiben die Schwierigkeiten, mit denen syrische Familien konfrontiert werden, die nach acht Jahren Krieg verstreut, traumatisiert und ruiniert sind. 

 Wie ist die tatsächliche Lage in Syrien zurzeit?

 Erzbischof Samir Nassar: In Syrien findet kein lokaler Konflikt, sondern ein internationaler Krieg statt: An diesem Krieg sind 85 Länder (!) beteiligt. Es handelt sich um die grausamste Auseinandersetzung der Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg. Seit April stellen wir fest, dass der Friede zurückkehrt. In Damaskus fallen keine Bomben mehr. Worin besteht nun das Problem? Darin, dass die jungen Menschen seit 2015 aus dem Land geflüchtet sind. Wir warten darauf, dass sie zurückkommen. Wir tun alles, was in unserer Macht steht, um denen zu helfen, die geblieben sind, und auch den Familien, denn die meisten Familien wurden getrennt. Unsere Aufgabe besteht darin, den Menschen zu helfen, im Land zu bleiben. Wir wollen aber auch den Geflüchteten helfen, damit sie zu ihren Familien zurückkehren können. Es gibt noch viel zu tun, um das Land nach acht Jahren Krieg wiederaufzubauen.

Schw. Jihane Elaoudatallah: Wir haben sehr schwere Zeiten durchgemacht. Vor einigen Monaten tötete eine Bombe eine Lehrerin in meiner Schule in Damaskus. Eine weitere schlug ebenfalls im Gebäude ein. Sie verletzte aber glücklicherweise keinen Menschen. Später fiel eine weitere Bombe, die ein Kind tötete und ein anderes so schwer verletzte, dass ihm ein Bein amputiert werden musste. Die Kinder standen unter Schock. Sie wollten nicht mehr in die Schule kommen. In die Schule zu gehen, bedeutete für sie, in den Tod zu gehen. Wir mussten Traumaarbeit leisten, um diese psychische Blockade zu überwinden. Dafür veranstalteten wir an einem ruhigen und abgelegenen Ort Exerzitien für Familien, die wirklich beklemmende Situationen durchgemacht haben. Ein Jesuitenpater predigte über das christliche Leben, über die Art und Weise, mit den Kindern mit der Angst umzugehen. Wir haben außerdem die Enzyklika Laudato Si’ durchgenommen. Diese Familien haben darum gebeten, dass regelmäßige Begegnungen stattfinden. So organisieren wir nun jeden Monat eine Begegnung, um nachzudenken, zu beten, zusammen zu essen und uns zusammen zu erholen.

Jean-Pierre Bingly: Alle Familien, seien es Muslime, Drusen oder Christen, sind vom Krieg betroffen. Sie müssen dieselben Probleme meistern. Ihre Kinder sind im Krieg gestorben, oder sie sind geflüchtet … Wir müssen unsere Familien wiederherstellen. Wir tun, was in unserer Hand liegt, um es zu schaffen.

P. Raimondo Girgis:In Damaskus hat sich die Lage normalisiert. Es herrscht Frieden. Die Kirche hat ihre Seelsorgearbeit wieder aufgenommen. In unserem Kloster halten wir Katechese für 230 Kinder. Wir haben außerdem ein Altenheim. Die Kirche betreut die Menschen weiterhin materiell und geistlich. In der ganzen Zeit des Krieges haben wir nicht nur den Armen und den Kranken geholfen, sondern darüber hinaus haben wir auch in der Familienseelsorge geistliche Unterstützung geleistet.

Gibt es Rückkehrmöglichkeiten für syrische Flüchtlinge?

Erzbischof Samir Nassar: Viele Jahre lang war Syrien ein Aufnahmeland: für die Armenier in den zwanziger Jahren, für Assyrer, Kurden, Libanesen, Iraker … Die syrischen Flüchtlinge waren hingegen in vielen Teilen der Welt nicht willkommen. Denn es sind viele, zu viele. Niemand will sie aufnehmen. Die Rückkehr nach Syrien ist nun ebenfalls kompliziert, vor allem aus finanziellen Gründen.

P. Raimondo Girgis: Viele Familien denken an die Rückkehr. Dies gilt vor allem für die christlichen Familien. Für die Kirche ist die Trennung der Familien eine offene Wunde. Dazu kommen die psychischen Probleme, die der Krieg hinterlassen hat und die wir als Kirche heilen müssen.

Schw. Jihane Elaoudatallah: Ihre Häuser sind außerdem zerstört – wohin sollen sie zurückkehren? Wie kann man in ein zerstörtes Haus zurückkehren? Es genügt nicht, zurückkehren zu wollen.

Marie Nasrallah: Jetzt kommt die Währungsabwertung hinzu, die die Rückkehr nach Syrien noch komplizierter macht. Das tägliche Leben ist sehr teuer geworden.

Ist die Wirtschaftsblockade gegen Syrien eine Bedrohung für die Rückkehr der Syrer?

Erzbischof Samir Nassar: Wir haben mit schweren Wirtschaftsproblemen zu kämpfen, weil unsere Währung abgewertet wurde. Vor dem Krieg war der Gegenwert eines amerikanischen Dollars fünfzig Syrische Pfund. Heute sind es 515 (!). Und die Gehälter sind gleich geblieben. Die im Ausland lebenden Syrer könnten uns helfen. Dies ist aber wegen der westlichen Blockade nicht möglich. Diese Maßnahme richtet sich zwar gegen die Regierung, darunter leiden aber die Armen. Während  die Regierungsmitglieder über andere Einkommensmöglichkeiten verfügen, müssen die Armen die Auswirkungen der Blockade ausbaden.

Schw. Jihane Elaoudatallah: Die wirtschaftliche Lage verschlimmert das Leiden der Bevölkerung, einer zerstreuten und gedemütigten Bevölkerung. Sie wird gedemütigt, weil sie auf Hilfe angewiesen ist, vor allem jetzt, da der Empfang der Unterstützung durch die Wirtschaftsblockade behindert wird. Vor allem für die Familien ist es eine schwere Belastung, die Kinder aufzuziehen.

P. Raimondo Girgis: Die Wirtschaftssanktionen zeigen kein positives Ergebnis. In Syrien herrscht Mangel an Arzneimitteln. Es gibt sie nirgends. Diese Maßnahmen führen nicht dazu, ein Volk zu retten – ganz im Gegenteil, es wird dazu verurteilt, in einem Gefängnis zu leben.

Ein letztes Wort?

Erzbischof Samir Nassar: Wenn der Papst von unserem Land spricht, spricht er von „unserem geliebten Syrien“. Er kennt Syrien, weil in Argentinien eine große Gemeinde syrischer Migranten lebt. Der Bischöfliche Familienausschuss dankt KIRCHE IN NOT, weil Ihr uns in den letzten Jahren sehr geholfen habt, notleidende Familien zu unterstützen, Kranke mit Arzneimitteln zu versorgen, Seelsorge weiterhin zu leisten. Aber jetzt brauchen wir weiterhin Hilfe, um unsere zerbombten Häuser wiederaufzubauen, um das Land wiederaufzubauen.

Seit Beginn des Konflikts hat KIRCHE IN NOT mehr als 25 Millionen Euro für Nothilfeprojekte zugunsten christlicher Familien in Syrien bewilligt, darunter fast 6 Millionen im Jahr 2017. Derzeit bereitet die Stiftung eine neue Kampagne vor, um den Wiederaufbau des Landes und die Rückkehr zu unterstützen der Flüchtlinge in den kommenden Monaten.

(1) Neben Erzbischof Nassar gehörten der Delegation die folgenden Personen an: Franziskanerpater Raimondo Girgis, der Rektor des  Heiligtums der Bekehrung des heiligen Paulus in Tabbale-Damaskus, Schwester Jihane Elaoudatallah von den Schwestern der Barmherzigkeit sowiedie Eheleute Jean-Pierre Benglé und Marie Nasrallah, die seit 24 Jahren verheiratet sind und ebenfalls dem Ausschuss angehören.