„Christen verlieren ihr Hab und Gut“
Die christliche Minderheit in der Türkei steht erneut unter Druck. In der ersten Januarhälfte wurden im Tur Abdin, einem Gebirgsmassiv im Südosten der Türkei, der syrisch-orthodoxe Abt Aho Bilecen zusammen mit zwei Gläubigen festgenommen. Wenige Tage später wurden die Inhaftierten freigelassen, es wurden aber erneut Christen verhaftet. Der Tur Abdin gilt als frühere christliche Hochburg. Über die Hintergründe sprach Volker Niggewöhner vom weltweiten päpstlichen Hilfswerk KIRCHE IN NOT mit dem Vorsitzenden der „Initiative Christlicher Orient“ im österreichischen Linz, dem Priester Dr. Slawomir Dadas.
KIRCHE IN NOT: Sie verfügen über exzellente Kontakte in den Tur Abdin. Wie geht es denn drei verhafteten und wieder freigelassenen Christen?
Slawomir Dadas: Es geht ihnen den Umständen entsprechend gut – mit aller Unsicherheit, die natürlich nach wie vor besteht. Bei den Verhafteten handelt es sich um den Abt des syrisch-orthodoxen Klosters Mor Yakub d’Karno und zwei Bürgermeister. Der Abt war vier Tage in Polizeigewahrsam, der eine Bürgermeister wurde nach zwei, der andere nach einem Tag entlassen.
Warum wurden die drei Männer verhaftet?
Berichten zufolge soll ein kurdischer Kämpfer der PKK zum türkischen Militär übergelaufen sein. Der hätte ausgesagt, dass der Abt und die anderen Personen vor wenigen Jahren einigen PKK-Kämpfern etwas zu essen gegeben hätten. Das wird automatisch als Terror-Unterstützung gewertet, und deshalb wurden sie festgenommen. Die offiziellen Protokolle der Aussage des ehemaligen Kämpfers hat aber niemand zu Gesicht bekommen.
Das deutet auf eine große Nervosität bei den Sicherheitsbehörden hin …
Die Menschen aus Tur Abdin sagen mir: Das ist leider Gottes alle paar Jahre Standard. Die Christen erleben sich in ihrer Heimat als nicht willkommen und werden immer wieder schikaniert. Dass der Abt jetzt vier Tage inhaftiert war, ist schon extrem. Es wurde auch davon berichtet, dass jetzt ein christliches Ehepaar verhaftet wurde. Es geht vermeintlich um Grundstücksstreitigkeiten.
Der Tur Abdin liegt auch unweit der Grenze zu Syrien und dem Irak. Inwieweit war und ist die Region von den kriegerischen Auseinandersetzungen dort betroffen?
Während des Irak-Krieges sind viele Flüchtlinge in den Tur Abdin gekommen. Mittlerweile sind die Flüchtlingscamps aber dort weitgehend leer. Die Flüchtlinge sind weitergezogen oder wurden einfach verlegt.
Sie haben die Schikanen gegen Christen erwähnt. Hat sich ihre Situation in der Türkei in den vergangenen Jahren generell verändert?
Vor allem im Tur Abdin ist das große Problem, dass die Menschen dort kaum noch eine Zukunft für sich sehen. Vor rund 50 Jahren sollen es dort noch circa 50 000 Christen gewesen sein. Als ich zuletzt in dem Gebiet war, wurde von nur noch 2500 Christen gesprochen.
Die Türkei ist ein großes Land. Lebt ein Christ in Istanbul besser als im Tur Abdin?
Ja. Ich habe den Eindruck, dass Christen in Istanbul mehr Freiheiten haben. Im Tur Abdin scheinen sie ein Störfaktor zu sein, weil es als christliches Gebiet gilt. Das kommt in einem muslimischen Land nicht gut an. Ich habe aber auch erlebt: Wenn die Klöster im Tur Abdin von Touristen besucht werden, dann weckt das auch Interesse bei den Muslimen. Sie bewundern die Kultur und Geschichte der Klöster. Da gibt es schon eine kleine Bewegung auf kulturellem Gebiet von muslimischer Seite. Aber gesellschaftspolitisch merkt man nichts davon.
Schon in den 1980er-Jahren gab es eine große Abwanderung aus dem Tur Abdin. Der Grund damals waren die Kämpfe zwischen der kurdischen PKK und der türkischen Regierung. Befürchten Sie ähnliches, wenn die militärische Lage wieder eskalieren sollte?
Die Menschen im Tur Abdin sagen, dass die militärische Lage ihnen weniger Sorgen macht als die wirtschaftliche. Das Gebiet wird von der Regierung grundsätzlich im Stich gelassen. Hilfe kommt nur durch Spenden von Organisationen oder von Emigranten, sonst könnten die Menschen dort nicht überleben. Bei meiner Reise in die Region haben wir zahlreiche Dörfer besucht. Dort haben früher 200, 300 Familien gelebt, mehrheitlich Christen. Heute sind es zwei oder drei. Sie bestehen meistens aus Menschen, die vorher in Deutschland oder anderen westeuropäischen Ländern gelebt haben und die im Ruhestand zurückgekehrt sind. Sie sind so etwas wie die Wächter des kulturellen Erbes und des Glaubens dort.
Wird sich Ihrer Einschätzung nach in der Türkei die Rückbesinnung auf den Islam fortsetzen und ist das einer Entfremdung zwischen der EU und der Türkei geschuldet?
Ich habe den Eindruck, dass diese Entfremdung gar nicht immer beabsichtigt war. Aber diese Entwicklung hat einige muslimische Mitbürger sehr gestärkt. Es wurden zum Beispiel einige christliche Dörfer von der muslimischen Bevölkerung besetzt. Häuser von Christen, die im Ausland leben, wurden von Muslimen übernommen. Es ist sehr schwierig, sie zurück zu bekommen. So ist es gerade im Tur Abdin: Die Menschen haben das Gefühl, dass sie „enteignet“ werden, denn es gibt keine Rechtsgrundlage dafür. Sie verlieren ihr Hab und Gut ohne wirkliche Rechtsgrundlage. Sie verlieren alles, was sie sich im Laufe der Geschichte erarbeitet haben. (Bild: Rafy/wikipedia)