Seit Tagen gehen die Menschen in Weißrussland (Belarus) auf die Straßen. Auslöser der Proteste war das Ergebnis der Wahl am 9. August, bei der der langjährige Präsident Alexander Lukaschenko als Sieger hervorging. Die Sicherheitskräfte sind anfangs rabiat gegen die Demonstranten vorgegangen. Es gab viele Festnahmen und Misshandlungen. Doch die Proteste der Weißrussen halten an.
In einem Interview schildert die Projektreferentin für Weißrussland von KIRCHE IN NOT, Magda Kaczmarek, die Lage in dem osteuropäischen Land.
Der Wahlausgang vom 9. August hat zu schweren Krawallen geführt. Medien haben Bilder vom rigiden Vorgehen der Polizei gegen Demonstranten gezeigt. Ist eine weitere Eskalation zu befürchten?
Die weißrussische Gesellschaft war mit dem Wahlergebnis nicht zufrieden. Unruhen und Spannungen waren schon davor zu beobachten. Das war der Grund, warum die Menschen auf die Straßen gegangen sind. Anfangs waren es Auseinandersetzungen mit Gewalt und Aggression gegen die Protestierenden, Tausende von ihnen wurden festgenommen, viele brutal geschlagen. Laut lokalen Medien sind erst einige Hunderte entlassen worden.
Seit einigen Tagen haben sich die Spezialeinheiten der Miliz zurückgezogen; und die Demonstrationen können friedlich verlaufen. Solche Proteste gab es bis jetzt in der Geschichte von Belarus noch nie.
Was fordern die Menschen?
Die Weißrussen sind diszipliniert und ein sehr gut organisiertes Volk. Die Menschen tragen Blumen und Ballons in den Händen oder Schilder mit „Schlagt uns nicht!“. Sie gehen friedlich durch die Straßen; und die Versammlungen verlaufen ohne Aggression. In der kommunistischen Zeit haben sie genug Leid und Trauer erfahren. Sie wollen nur Frieden und Ruhe in ihrem Land und haben Sehnsucht nach Demokratie.
Die jungen Menschen in Belarus sind gut ausgebildet und beobachten mit Begeisterung ihre Nachbarländer Polen, Litauen und Lettland und wie sie sich entwickeln. Für sie ist die Zeit für Änderungen gekommen. Daher möchte die junge Generation sich Europa öffnen und ihre Kinder in Frieden und Toleranz aufwachsen sehen.
Europa wirkt etwas rat- und fassungslos zu den aktuellen Vorgängen und der anhaltenden politischen Situation in Belarus. Was können die EU und die osteuropäischen Nachbarn tun?
Ich bin sicher, dass das Volk in der Lage ist, seine eigenen Probleme selbst zu lösen. Papst Franziskus hat sich am 16. August an die Weißrussen gewandt: Er bat um Frieden und Gerechtigkeit sowie um Dialog mit der Gesellschaft. Ich denke, dass seine Botschaft sehr klar ist.
Belarus ist ein christliches Land, die Mehrheit ist orthodox, die römisch-katholische Kirche hat einen Anteil von zehn Prozent der Bevölkerung. Tadeusz Kondrusiewicz, der römisch-katholische Erzbischof und Metropolit von Minsk-Mahiljou, hat vergangene Woche an die Öffentlichkeit appelliert und einen runden Tisch vorgeschlagen. Er fügte hinzu, dass Belarus noch nie erlebt hat, dass der Bruder das Blut seines Bruders an seinen Händen hat.
Die Brutalität hat tiefe Spuren hinterlassen. Er fragt, wer diese Wunden heilen werde. Die Menschen sind körperlich und psychisch verletzt. Aber es gibt eine enorm große Solidarität unter den Mitmenschen für die Betroffenen.
Was können die Kirchen dazu beitragen, die Situation zu befrieden?
Die Bischöfe haben zum Gebet aufgerufen. Nach den Gottesdiensten werden der Rosenkranz gebetet und Zeiten der Anbetung gehalten. Das Verkünden des Evangeliums und der Wahrheit ist zurzeit für die Priester und Ordensleute wichtiger denn je. Die Menschen suchen nach Trost und finden ihn im Glauben.
Bischof Aleh Butkewitsch aus Wizebsk erzählte mir, dass die Menschen in Belarus oft in einem Gewissenskonflikt leben, weil sie Situationen erlebt haben, in denen sie gegen ihr eigenes Gewissen handeln mussten. Das Böse solle aber mit dem Guten bekämpft werden. Ein Beispiel dafür sind die Frauen auf den Straßen, die in ihren weißen Blusen die Milizmänner umarmt und Blumen hinter die Schutzschilde gesteckt haben.
Ich dachte, der postsowjetische Mensch sei misstrauisch, zeige keine Eigeninitiative und übernehme nicht gerne Verantwortung, aber diese Tage haben meines Erachtens in Belarus das Gegenteil bewiesen.
Wie ist das Verhältnis innerhalb der christlichen Konfessionen in Belarus? Wie steht es um den interreligiösen Dialog?
Gemeinsame Gebete für den Frieden im Lande sind aktuell auch ein Zeichen der großen Solidarität zwischen den Kirchen. Die orthodoxe Kirche und Vertreter verschiedener christlicher Konfessionen, des Judentums und des Islam haben sich dem Appell um landesweite Gebete von Erzbischof Kondrusiewicz angeschlossen.
Der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz in Belarus sagte, es gebe keine Wahrheit, wo Gewalt herrsche. Jede gegen Gott und den Menschen gerichtete Tat sei eine schwere Sünde. Der orthodoxe Metropolit Pavel hat auch gebeten, auf Gewalt zu verzichten. Hass und Aggression seien keine Lösung.
Zu Beginn von Covid-19 hatten sich alle Konfessionen zusammengetan, um gegen die Pandemie zu beten. Das gab es laut Metropolit Kondrusiewicz noch nie. Die gemeinsamen Bestrebungen der katholischen und der orthodoxen Kirche für den Schutz des Lebens, gegen Abtreibung, und für die Familie sind seit Jahren bekannt.
Welche Zukunftsperspektive sehen Sie für Belarus?
Belarus ist ein Land mit herrlichen Landschaften, Seen und vielen Bodenschätzen. Die sogenannten landwirtschaftlichen Kolchosen gehören dem Staat. Die Menschen verlassen allerdings die Dörfer und gehen mehr und mehr in die Städte, um dort Arbeit zu finden. So habe ich das auf meinen Reisen in das Land erlebt. Es gibt Universitäten mit guten Dozenten, und die jungen Menschen lassen sich gerne ausbilden.
Das alles schafft Möglichkeiten für die Entwicklung eines Bewusstseins für Freiheit und Demokratie. Daher ist der offene und konstruktive Dialog mit den Regierenden wichtig. Die Stimme der Kirchen ist hier sicherlich entscheidend, denn nur die Wahrheit kann die Menschen retten.
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